Gerichtsverfahren sind grundsätzlich öffentlich. Das gilt auch für Gerichtsurteile: Sie dürfen eingesehen werden, und zwar vollständig mit Sachverhalt, rechtlichen Überlegungen des Gerichts und Beschlüssen, selbst wenn sie noch nicht rechtskräftig sind oder schon einige Jahre zurückliegen. Das betonte das Bundesgericht in einem Fall aus dem Kanton Graubünden (Urteil 1C_123/2016 vom 21. Juni 2016).
Eine Journalistin beantragte am 8. Februar 2016 beim Kantonsgericht Graubünden, man solle ihr zwei Gerichtsurteile vom 3. März 2010 und vom 29. Januar 2016 in anonymisierter Form zustellen. Die Urteile ergingen im Zusammenhang mit einem Strafverfahren nach einem Sportunfall im Jahr 2008, das noch vor dem Kantonsgericht hängig war. Die Journalistin recherchierte in diesem Fall. Das Gericht lehnte das Gesuch ab. Begründung: Das Urteil vom 29. Januar 2016 sei noch nicht rechtskräftig und werde deshalb (noch) nicht herausgegeben. Das Gericht stellte der Journalistin jedoch eine Urteilszusammenfassung zu und verneinte weitergehende Ansprüche, wie namentlich einen Anspruch auf Zustellung einer Urteilskopie. Zum Urteil vom 3. März 2010 führte das Gericht aus, dieses sei vom Bundesgericht aufgehoben und ihm zur Neubeurteilung zurückgewiesen worden. Der Entscheid habe somit keine Rechtswirkung mehr; er sei rechtlich gesehen nicht mehr existent. Daher sei auch nicht ersichtlich, inwiefern daran im Nachhinein noch ein öffentliches Interesse bestehen sollte. Das Bundesgericht widersprach dem Kantonsgericht:
Die Bundesverfassung hält in Art. 30 Abs. 3 fest, dass Gerichtsverhandlungen und Urteilsverkündungen grundsätzlich öffentlich sind. Es besteht ein Anspruch auf Kenntnisnahme der Urteile, und zwar vollständig, mit Sachverhalt, rechtlichen Überlegungen und Entscheid. Dies soll Geheimjustiz ausschliessen, Transparenz der Justiztätigkeit im demokratischen Rechtsstaat fördern und Vertrauen in die Rechtspflege schaffen. Durch die Einsicht können insbesondere auch die Medien eine Kontrollfunktion übernehmen. Der Anspruch wird allerdings begrenzt durch den ebenfalls verfassungsrechtlich verankerten Schutz von persönlichen und öffentlichen Interessen. Zu wahren ist insbesondere der Persönlichkeitsschutz der Prozessparteien, beispielsweise von Minderjährigen. Die Kenntnisgabe von Urteilen steht daher unter dem Vorbehalt der Anonymisierung.
Das Bundesgericht gab auch beispielhaft an, was es als genügende Veröffentlichung beurteilt: Verkündigung im Gerichtsverfahren in Anwesenheit der Parteien sowie von Publikum und Medienvertretern, öffentliche Auflage, Publikation in amtlichen Sammlungen oder auch Bekanntgabe über das Internet. Ebenso genügt die nachträgliche Gewährung der Einsicht auf Gesuch hin. Der Anspruch auf Einsicht gilt auch für noch nicht rechtskräftige oder für aufgehobene Urteile - was im vorliegenden Fall zutraf. Das Bundesgericht hiess deshalb die Beschwerde der Journalistin gut.
Der Entscheid bewegt sich auf der Linie früherer Entscheide des Bundesgerichts (beispielsweise: BGE 139 I 129 vom 26. März 2013). Einige Gerichte publizieren ihre Entscheide in grosser Zahl im Internet. Die aargauische Justiz ist nicht ganz so weit. Die Herausforderung liegt im Aargau nicht darin, Entscheide zu erhalten - sie werden auf Anfrage jeweils herausgegeben -, sondern zu wissen, dass ein Entscheid überhaupt existiert. Es wäre zu wünschen, dass auch im Kanton Aargau die Publikationspraxis etwas grosszügiger wäre und die Entscheide im Internet verfügbar wären. So könnten letztlich auch unnötige Gerichtsverfahren vermieden werden. Denn wenn bekannt ist, dass eine Rechtsfrage bereits entschieden wurde, muss sie nicht mehr gestellt werden und die Gerichte werden nicht unnötig belastet. Dies kann dafür sprechen, selbst in Zeiten knapper Kantonsfinanzen Urteile vermehrt zu veröffentlichen.
Frage: Mein Haus wird innen leicht umgebaut. Da ich im Innern mehr Licht will, habe ich entschieden, die Fenster zu vergrössern. Die Arbeiten sind im Gang. Nun kam die Gemeinde auf mich zu und verlangte, dass ich ein Baugesuch einreiche. Droht mir nun eine Busse, auch wenn die Arbeiten noch nicht fertig sind?
Antwort: Das Bauen ist grundsätzlich nur mit einer Baubewilligung erlaubt. Diese muss vor Baubeginn eingeholt werden. Bauen ohne Baubewilligung hat im Aargau in der Regel zwei Konsequenzen: Erstens wird die Gemeinde einschreiten und einen Baustopp verfügen. Sie fordert auf, ein nachträgliches Baugesuch einzureichen und wird dann entscheiden, ob der Bau bewilligt werden kann oder nicht. Im schlimmsten Fall muss der Bau wieder abgebrochen werden (§ 159 Baugesetz Aargau, BauG). Zweitens ist Bauen ohne Baubewilligung verboten. Es droht eine Busse bis 50'000.00 Franken (§ 160 BauG). Das gilt, selbst wenn nachträglich eine Baubewilligung erteilt wird.
Vor Bundesgericht ging es kürzlich um einen solchen Fall. Die Gemeinde stellte bei der Abnahme des Rohbaus fest, dass ein bewilligter, gemäss Baugesuch als gedeckt geplanter Gartensitzplatz zu einem Wintergarten ausgebaut werden sollte. Die Gemeinde zeigte den Bauherrn bei den Strafbehörden an. Der Bauherr wehrte sich gegen eine Bestrafung mit dem Argument, der Wintergarten sei gar noch nicht fertig erstellt gewesen. Das Bezirksgericht büsste ihn mit 2'000 Franken; das Obergericht bestätigte die Verurteilung. Das Bundesgericht schützte diesen Entscheid. Es verwies auf die Praxis des Kantons Aargau: Die Widerhandlung gegen das Baugesetz bedinge nicht, dass der Bau beendet sei. Durch die nicht bewilligte Projektänderung sei die Absicht feststellbar geworden, ohne Baubewilligung zu bauen. Das sei ausreichend. Wer einen Wintergarten im Rohbau erstelle, wolle diesen auch beenden (Urteil des Bundesgerichts 6B_799/2016 vom 10. November 2016).
Diese strenge Praxis gilt zurecht. Denn schreiten die Behörden nicht früh ein, werden Fakten geschaffen, welche nur schwer wieder rückgängig gemacht werden können, namentlich wenn letztlich der Rückbau verlangt wird. Eine Busse droht, sobald mit Arbeiten begonnen worden ist, welche bewilligungspflichtig wären. Das gilt also auch bei ersten Arbeiten zur Öffnung der Fassade für grössere Fenster: Da keine Bewilligung vorliegt, droht eine Busse.
Submissionsrecht: Aargauische Pensionskasse APK untersteht dem kantonalen Submissionsrecht für Architekturarbeiten an Mietwohnungen. Sie muss diese öffentlich ausschreiben. Das entschied das Bundesgericht und wies eine Beschwerde der APK gegen einen Entscheid des Aargauer Verwaltungsgerichts ab (Urteil des Bundesgerichts 2C_6/2016 vom 18. Juli 2016).
Die Aargauische Pensionskasse APK ist Eigentümerin von Mietwohnungen. Sie plante die Sanierung von Küchen und Bädern. Dazu gab sie Architekturleistungen über CHF 300'000 bei einer Firma direkt in Auftrag, ohne öffentliche Ausschreibung. Eine andere Firma beanstandete dies. Die APK stellte sich auf den Standpunkt, bei den geplanten Sanierungen handle es sich nicht um ein Geschäft, das öffentlich auszuschreiben sei. Das Verwaltungsgericht stellte auf Beschwerde hin jedoch fest, die Vergabe der Architekturleistungen sei rechtswidrig erfolgt. Das Gericht verpflichtete die APK, die noch ausstehenden Architekturleistungen gemäss dem Submissionsrecht auszuschreiben. Die APK führte dagegen Beschwerde vor Bundesgericht und unterlag.
Das Bundesgericht prüfte zuerst, ob die Beschaffung dem Internationalen Übereinkommen vom 15. April 1994 über das öffentliche Beschaffungswesen (GPA) unterliegt (Anhang I, Annex 2, Ziff. 1 und Ziff. 2 GPA). Es verneinte dies, weil die APK selbständig ist, das heisst über eine eigene Rechtspersönlichkeit ausserhalb des Kantons verfügt, sie nicht mehrheitlich öffentlich finanziert ist (Arbeitgeberbeiträge stellen keine öffentliche Finanzierung dar), der Einfluss der kantonalen politischen Behörden auf die Geschäftsführung durch das Bundesrecht ausgeschlossen und das oberste Leitungsgremium nicht mehrheitlich öffentlich bestimmt ist (Parität Arbeitgeber und Arbeitnehmer) - so die Kriterien aus dem GPA.
Das Bundesgericht prüfte weiter, ob das Verwaltungsgericht das kantonale Submissionsdekret SubmD willkürlich falsch angewendet hatte, das heisst grob falsch und auch im Ergebnis stossend. Das Verwaltungsgericht hatte festgehalten, dem SubmD unterstünden als Vergabestellen "der Kanton und seine Anstalten" (§ 5 Abs. 1 lit. a SubmD). Damit würden auch die selbständigen Anstalten des Kantons erfasst, wie die APK. Das kantonale Recht unterstelle die kantonalen Anstalten dem Vergaberecht, ohne Ausnahmen für kommerzielle oder industrielle Tätigkeiten, anders als namentlich die Interkantonale Vereinbarung über das öffentliche Beschaffungswesen IVöB (Art. 8 Abs. 1 lit. a IVöB). Zudem beruhe der Versichertenbestand der APK zu rund 55 % auf rechtlichen Vorgaben des Kantons, weshalb keine wirtschaftliche und kommerzielle Tätigkeit vorliege. Als Anstalt unterstehe die APK daher dem SubmD. Das habe zur Folge, dass die umstrittenen Planerleistungen sowie die Sanierungsarbeiten und die Bauleitung als Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge dem SubmD unterstünden (§ 6 SubmD). Das Bundesgericht schützte diese Überlegungen des Verwaltungsgerichts.
Weiter machte die APK geltend, das kantonale Recht SubmD verstosse gegen verschiedene Bestimmungen des Bundesgesetzes über die berufliche Vorsorge BVG und damit gegen Bundesrecht, wenn die APK dem Vergaberecht unterstellt werde: Das Bundesrecht regle die berufliche Vorsorge abschliessend, namentlich auch die Vermögensverwaltung der Vorsorgeeinrichtungen; die Kantone dürften den Anlageprozess von Vorsorgeeinrichtungen daher nicht weitergehend regeln; zur Vermögensverwaltung gehöre auch die Instandhaltung des Anlagevermögens und damit die hier umstrittenen Sanierungsarbeiten. Das Bundesgericht entgegnete, durch die Unterstellung unter das Vergaberecht werde das Beschaffungsverfahren für die Vergabestellen zwar komplizierter und aufwändiger. Insofern stehe das Vergaberecht tendenziell in einem Spannungsverhältnis zu einer effizienten Vermögensbewirtschaftung. Hier gehe es aber um Unterhalts- oder Sanierungsarbeiten an Liegenschaften, die bereits im Eigentum der APK als Beschwerdeführerin stünden. Es sei nicht ersichtlich, inwiefern die wirtschaftliche Verwaltung dieser Liegenschaften durch eine Unterstellung unter das Vergaberecht erheblich beeinträchtigt werde. Die sinnvolle Bewirtschaftung des Anlagevermögens und die Durchführung der beruflichen Vorsorge würden dadurch nicht vereitelt oder übermässig erschwert. Das aargauische Recht (SubmD) verletzte daher Bundesrecht nicht.
Das Bundesgericht wies die Beschwerde der APK ab.
Als Fazit lässt sich festhalten, dass der Entscheid Auswirkungen auf die Beschaffungen der APK hat. Sie muss künftig Arbeiten ausserhalb ihrer Kerntätigkeit, wie die hier betroffenen Sanierungsarbeiten, gemäss dem Submissionrecht ausschreiben. Die APK blieb hier nicht am Internationalen Übereinkommen GPA oder an der Interkantonalen Vereinbarung IVöB "hängen", sondern erst am kantonalen Submissionsdekret SubmD. Das bedeutet, es müssen jeweils alle "Gesetzes-Stufen" geprüft werden, bevor beantwortet werden kann, ob eine Beschaffung dem Vergaberecht untersteht. Dass Internationales, Bundes- oder interkantonales Recht nicht zu einer Unterstellung unter das Beschaffungsrecht führt, bedeutet nicht, dass das aargauische SubmD nicht doch "greift". Denn der aargauische Gesetzgeber hat sich mit dem Submissionsdekret bewusst für einen sehr weiten Kreis von Vergabestellen und Auftragsarten entschieden.
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